Niemand braucht Lyrik!
Die meisten Menschen gehen völlig zufrieden durchs Leben ohne sich etwas aus Gedichten zu machen. Das ist völlig normal. Es gibt ja auch Menschen, die sich nichts aus Fußball machen und ein erfülltes Leben führen. Weder Lyrik noch Fußball sind Dinge, die man braucht.
Im Vergleich zum Fußball führt Lyrik allerdings ein ziemliches Schattendasein. Sogar innerhalb der Literaturszene gilt Lyrik nicht unbedingt als Breitensport. Gehen Sie mal in einen Buchladen und suchen dort die Lyrik-Abteilung. Wenn Sie mehr als einen Regalmeter finden, dürfte das viel sein.
Spreche ich im literaturaffinen Bekanntenkreis über Lyrik, spüre ich sogar dort nicht selten eine gewisse Ablehnung. Und bei Menschen, die mit Literatur insgesamt wenig zu tun haben, ist die Haltung manchmal sogar feindselig. Lyrik ist vielen regelrecht verhasst. „Damit kann ich nichts anfangen“ oder „Das verstehe ich nicht“ sind Sätze, die immer wieder auftauchen.
Kritik, die absolut nachvollziehbar ist. Lyrik ist eben anders als Prosa. Sie ist oft verrätselt, viel dichter komponiert, weniger eindeutig. Sie überlässt ihrer Leserschaft deutlich mehr Interpretationsraum als ein klassischer Prosatext. Leser und Leserinnen wollen verstehen, was sie lesen. Wer einen Text nicht versteht, betrachtet das als Scheitern. Denn genau diese Lesart von Literatur wird uns in der Regel vermittelt.
Es beginnt in der Schule. Wir werden darauf konditioniert, keine offenen Fragen zuzulassen. Unter dieser Prämisse werden im Deutschunterricht Gedichte interpretiert. Was will uns der Dichter damit sagen? Als ob ein Gedicht eins zu eins übersetzt werden könnte, wird Lyrik mit nahezu naturwissenschaftlicher Akribie seziert. Es werden Silben gezählt und Reime abgeklopft. Jedes Wort wird umgestülpt, um seinen Sinngehalt nach außen zu kehren. Lyrik wird in Schubladen sortiert, dort die Sonette und da die Balladen.
Lyrik wird zur Schulaufgabe, die man unter Notendruck lösen soll. Kein Wunder, wenn man aus Angst zu scheitern eine Abwehrhaltung entwickelt. Niemand verliebt sich in eine Prüfungsaufgabe. Das fatale Resultat: Lyrik wird oft nur deshalb abgelehnt, weil man befürchtet, sie nicht zu verstehen, noch bevor man versucht, sie zu verstehen.
Und dann gibt es da noch ein Missverständnis, welches ebenfalls in der Schule, aber nicht nur dort, immer wieder erneuert wird. Es ist die Art und Weise, wie man sich einen Dichter bzw. eine Dichterin vorstellt. Die Unantastbarkeit, mit der man Dichterfürsten (alleine schon der Name spricht Bände) wie z.B. Goethe und Schiller betrachtet, sorgt für Distanz. Lyrik wird zu einer Kunstform deklariert, die so besonders ist, so abgehoben und über allem stehend, an die man als „Normalsterblicher“ überhaupt nicht herankommt. Dichtkunst wird völlig überhöht dargestellt.
Man stellt die Lyrik auf einen Gipfel, auf den höchst möglichen. Das ist gut für die, die sich mit ihr schmücken wollen. Und enorm praktisch für alle anderen, denn dort ist sie weit weit weg. Für die meisten Menschen ist Lyrik die Sorte von Schulwissen, ohne die man im echten Leben ohne Probleme auskommt. Und damit haben sie völlig recht. Niemand braucht Lyrik.
Die Kehrseite dieser Wahrheit: Die Lyrik braucht uns auch nicht. Sie ist trotzdem da. Sie entsteht täglich neu. Auch wenn sie nur ein kleines Pflänzchen ist, das eher unbeachtet im großen Garten der Literatur gedeiht. Sie wächst, weil sie etwas Lebendiges ist. Ausdruck von Leben. Weil es Menschen gibt, die nun einmal Worte dafür verwenden, wenn sie den großen und kleinen Fragen des Seins nachspüren. Auch den alltäglichen Fragen.
Lyrik ist in Wahrheit überhaupt nicht weit weg. Sie steht auf keinem Gipfel. Sie entsteht aus der Mitte heraus. Und wenn sie manchmal schwer zu verstehen ist, dann vielleicht darum, weil die Dinge, die sie beschreibt, ebenfalls schwer verständlich sind. Weil sie dieses Schwer-Verstehen-können in eine Wortform bringt. Wer Lyrik so betrachtet, wird merken: Man braucht Lyrik nicht, um zu überleben. Aber manchmal hilft sie dabei.
Tatsächlich ist Lyrik sogar mitten drin in unserem Alltag.
Dort, wo wir Lyrik nicht als Lyrik erkennen, integrieren wir sie mühelos in unser Leben. Die Grenzen sind fließend. Lyrics, also Liedtexte, hören wir ständig. Die Ähnlichkeit zwischen den Begriffen „Lyrics“ und „Lyrik“ ist kein Zufall. Der Begriff „Lyrik“ stammt vom griechischen Wort „lyra“ und erinnert daran, dass Lyrik ursprünglich Hand in Hand mit Musik ging. Darum spricht man von Rhythmus und Reim, wenn man Lyrik beschreibt. Es geht immer auch um den Klang. (Gedichte sollte man laut lesen. Alles andere macht wenig Sinn.)
Doch sobald man die Lyrik Lyrik nennt, türmen sich die zuvor genannten Vorurteile auf.
Niemand braucht Lyrik. Diejenigen, die Lyrik lieben, lieben sie nicht, weil sie sie brauchen. Sie lieben sie. Und darum brauchen sie sie. Die Lyrik selbst ist ihnen wichtig. Das, was sie ihnen bringt. Jedes einzelne Gedicht initiiert eine Beziehung zwischen Text und Lesendem. Und nur der Lesesende selbst entscheidet, welchen Wert der Text für ihn besitzt.
Lyrik wird aus Worten gemacht. Worte sind überall. Worte gehören uns allen. Wir alle gebrauchen Worte, um unsere Gedanken und Gefühle zu transportieren. Nichts anderes macht Lyrik.
Lyrik ist ein Geschenk. Sie ist an keinen Zweck gebunden. Sie beinhaltet keine Verpflichtung, kein Risiko. Ein Geschenk anzunehmen ist immer freiwillig. Niemand braucht Geschenke. Aber genau das macht ein Geschenk wertvoll. Alles was über das Brauchen hinaus geht, ist Bereicherung. Ist Reichtum. Und kann manchmal sogar Liebe sein.
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Erschienen in "Unterwegs mit dem Lyrik-Flüsterer", hrsg. v. W. Christian Schmitt, ISBN 978-3-9825762-2-0